Hans Ulrich Glarner zur Häuserbuchvernissage

Hans Ulrich Glarner, von 2002 bis 2013 Leiter der Abteilung Kultur des Kantons Aargau, bis 2024 Vorsteher des Amts für Kultur des Kantons Bern, hat anlässlich der Buchtaufe im Museum Höfli in Bad Zurzach am 4. Mai 2024 die Laudatio gehalten:

Hans Ulrich Glarner bei der Buchvernissage in Bad Zurzach © Sennhauser

Nun liegt das grosse Werk vor. Ein Buch in zwei Bänden. Fast sieben Kilogramm schwer. Üblicherweise spricht man bei Büchern nicht vom Gewicht. Von ihrer Gewichtigkeit schon, aber nicht von ihrem Gewicht. Es gibt genug Bücher, die sind zwar schwer, aber inhaltlich zu leichtgewichtig. Andere sind leicht, aber schwer verdaulich. Weder das eine noch das andere trifft auf das Zurzacher Häuserbuch zu. Bei diesem Werk sind sowohl seine äussere Gestalt als auch seine inneren Werte ge-wichtig. Das bringt uns einen erheblichen Preisvorteil, hat Katrin Roth-Rubi errechnet. Der Preis des Zurzacher Häuserbuchs beläuft sich auf unschlagbare Fr. 1.46 pro 100 Gramm. Heute sogar bloss Fr. 1.17. Das ist ein richtiger Preis-Schlager! Zum Vergleich: Der neue Alex Capus, «Das kleine Haus am Sonnenhang», kostet pro 100g 17 Franken. Und da geht’s nur um ein einziges «kleines Haus», nicht um 70 Häuser wie beim Zurzacher Häuserbuch! Greifen Sie zu, meine Damen und Herren!

Sie erlauben mir diesen Exkurs ins Kommerzielle. Ich erweise damit bloss der Zurzacher Messe meine Referenz. Da ging’s gewiss noch viel lauter und unzimperlicher zu, wenn man seine Ware an den Mann und die Frau bringen wollte. Schöne Damen, edle Herren! So wären Sie von mir wohl begrüsst worden. «Werd’s rühmen und preisen weit und breit!» Mit diesem Ausruf eröffnet Goethe sein «Jahrmarktsfest zu Plundersweilern». Und was sogar Goethe dem Marktschreier in den Mund legt – den er bei der Uraufführung übrigens selber spielte – das darf auch ich rund 170 Jahre nach der letzten Zurzacher Messe an diesem wohlgesitteten Anlass: Das Häuserbuch: Ich rühm’ und preis’ es weit und breit!

Sie haben es gleich bemerkt und deshalb sei es vorweggenommen: Ich bin weder Kunstgeschichtler noch Archäologe, werde mit meiner Ansprache diesem grossen und bedeutenden Werk, dessen Erscheinen wir heute feiern, somit fachlich in keiner Weise gerecht werden können. Was ich bin, und weshalb mich Professor Hans-Rudolf Sennhauser als Vernissage-Redner in Kauf genommen hat: Ich bin Zeit meines Lebens glühender Ausrufer für den Kulturkanton Aargau (und das auch in Bern.) Und ist der Grund, weshalb wir heute hier zusammenkommen, nicht ein Glanzlicht für den Kulturkanton!

Buchvernissage in Bad Zurzach, Mai 2024 © Sennhauser

Ausserdem betrachte ich das gefeierte Werk mit den Augen vieler der heute Anwesenden, als ein interessierter Laie, als ein Liebhaber alter Häuser und ihrer Geschichten. Und als ein Freund des Fleckens Zurzach.

Vielleicht darf ich mich sogar als Freund des Hauses Sennhauser bezeichnen. Professor Sennhauser wäre somit der Gastfreund, der mich in den Leuen und den Oberen Hahnen aufgenommen hat, wie einst Gustav Freiherr von Risach, der Gastfreund in Adalbert Stifters «Nachsommer». Dieser nimmt den vor einem Gewitter schutzsuchenden Heinrich Drendorf bei sich im Rosenhaus auf und führt ihn behutsam ein in viele Geheimnisse von Kunst, Geschichte und Natur.

Wie gerne würde ich ihn, Hans-Rudolf Sennhauser, nun zustimmend nicken sehen hier in der ersten Reihe. Vermutlich wäre es aber stattdessen ein abwägendes Wiegen des Hauptes, mit dem er diesem Vergleich begegnen würde, verbunden mit einem nachsichtigen Lächeln gegenüber dem jungen Romantiker – jetzt schmunzeln Sie: ja, immerhin bin ich fast 30 Jahre jünger als HRS. Heinrich war Mitte 20, der Gastfreund Mitte 50 – zumindest der Altersunterschied trifft sich mit der literarischen Vorlage. Und natürlich die Rolle des Mentors, des Vorbilds, das mir Herr Sennhauser ist: In seinem in meinen Augen unerschöpflichen Wissen, in seiner Ausdauer, seiner Hartnäckigkeit, seinem unbeirrbaren Willen, gelegentlich auch Widerwillen. Seiner schieren Lust an der Forschung, daran, der Sache ganz auf den Grund zu gehen, stets im Wissen, dass diese Grundlage dereinst erneut abgetieft werden kann. 

Der Aargauer Schriftsteller Christian Haller, der nur ein paar Wellenlängen weiter Rhein abwärts in Laufenburg zu Hause ist und kürzlich für sein Werk «Sich lichtende Nebel» den Schweizer Buchpreis gewonnen hat, beschreibt in eben dieser Novelle drei Wissenschaftler, einen jungen und zwei emeritierte. Zu jenen gehört Sörensen, ein Privatgelehrter, der, ich zitiere: «im Aufzeigen epochaler Entwicklungslinien sein Vergnügen fand.» Beim Lesen dieser Zeile, stand mir das Bild Herrn Sennhausers vor Augen. In seine kunsthistorische Sicht fliesst doch stets auch der universalhistorische Blick mit ein.

Als ich mich Mitte April nach Zurzach aufmachte, war der Frühling kurzerhand zum Sommer geworden. Das Postauto schaukelte mich in weiten Kurven vom Aare- ins Surbtal und schliesslich über den Zurzacherberg hinunter direkt in den Oberflecken, erwartet von Alfred Hidber.

Im Oberen Hahnen, in der zum Studierzimmer umfunktionierten Stube, empfing er uns, der verehrte Professor, uns zuliebe seine Arbeit am grossen Schreibtisch unterbrechend (nur kurz, versteht sich). Er war erst drei Tage vorher nach sehr ernsthafter Erkrankung aus der Reha zurückgekehrt. Zwar nicht sitzend auf der Kathedra, aber nicht minder würdig auf leicht erhöhtem Stuhl, während Fredi Hidber und ich, in Fauteuls versinkend, zu seiner Rechten und seiner Linken harrten. Und nun genoss ich ihn endlich wieder einmal, diesen Quellbach sprühender Gedanken, diesen Wissensfluss mit seinen blitzenden Schaumkronen und gelegentlichen tiefgründigen Wirbeln, diesen Erfahrungsstrom mit seinen weiten Mäandern.

Wie hat das mit dem Häuserbuch in den 60er Jahren denn eigentlich begonnen?

Die Umstände waren ziemlich destruktiv. Die Fassung der Therme 1955 rief auch Spekulanten auf den Plan. In der Nachkriegszeit wurde dem Fortschritt auch in Zurzach besonders gern mit Abbruch gefrönt. Das alte Rathaus wurde 1963, fast könnte man sagen in einer Nacht- und Nebelaktion, zbodegrisse. Der junge Kunsthistoriker und Archäologe stand fassungslos vor dem Trümmerhaufen in seinem Geburtsort, begehrte auf. (Der rebellische Zug ging mit den Jahrzehnten übrigens nicht verloren.) Doch blieb er damals vorerst ein Rufer in der Wüste.

Die heute zuständigen Stellen hatten noch nicht die Kapazität und die rechtlichen Grundlagen, um zu handeln. Es fehlte aber auch noch das Rüstzeug der Mittelalterarchäologie. Es gehört zu den grossen Verdiensten von HR. Sennhauser, dass er später an der Universität Zürich und an der ETH dieses Wissen aufbaute und nicht bloss eine Generation von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen hervorbrachte. Viele von ihnen haben den Weg später in die kulturpflegenden Stellen der Kantone gefunden, die in Zeiten der Hochkonjunktur auch kräftig ausgebaut wurden.

Doch vorerst war Privatinitiative gefordert. Mitunter auch ein Kampf gegen den «Gartehüsligeist», wie ihn Sennhauser nennt, im Sinne von «es soll gefälligst niemand dreinreden, was ich mit meinem eigenen Haus mache». Doch die Kämpfernatur liess nicht locker, was brauche ich die Vergangenheitsform: lässt nicht locker. In Zurzach wurde das Büro Sennhauser gegründet, die heutige Stiftung für Forschung in Spätantike und Mittelalter. Und als es sechs Jahre später dem Weissen Haus an den Kragen ging, war der Student von damals bereits habilitiert und der historisch wertvolle grosse Baukomplex wurde dokumentiert.

Alfred Hidber bei der Büchertaufe in Bad Zurzach, Mai 2024 © Sennhauser

Doch was will ein Feuerwehrhauptmann ausrichten ohne Mannschaft? Inzwischen war Alfred Hidber in Zurzach angekommen, was für ein Glück für das Büro Sennhauser und für das heute vorliegende Werk: Fredi Hidber wurde zur rechten Hand des Professors, rasch in Zurzach fest verankert, hat Pläne aufgenommen, Skizzen gefertigt, Fotos gemacht, Quellen studiert, Besitzergeschichten recherchiert und schliesslich als Mitherausgeber des Häuserbuchs firmiert. Vor allem aber hat er vor Ort auch Vertrauen aufgebaut und Akzeptanz bewirkt. Das bescheidene Kürzel «ahi» taucht in so mancher Bildlegende auf. Wir halten hier das Lebenswerk zweier Männer in Händen. Dazu gesellten sich über die Jahrzehnte viele weitere Kräfte, die nicht selten Jahre ihres Berufslebens in diese Arbeit investierten. Einige davon, sind heute anwesend. Ihnen allen sind wir zu Dank verpflichtet. Das Häuserbuch ist zu einem grosses Gemeinschaftswerk geworden.

Dem Weissen Haus folgte unmittelbar das Haus zum Elefanten, das bereits 1967 auf Abbruch verkauft worden war. Die beiden Gebäudekomplexe sind durch die vorliegende Arbeit professionell dokumentiert. Was für ein Schatz: Hier wird uns ein Stück des alten Zurzi vermittelt, das ohne dieses Buch auf ewig verloren wäre. Die meisten der Anwesenden haben die dazwischenliegenden Jahrzehnte durchlebt. Wir reiben uns die Augen, wie die Realität noch in unserer Kinder- und Jugendzeit eine ganz und gar andere war. Die vernachlässigten Häuser und ihre Umgebung treten uns in vielen Abbildungen entgegen. Oftmals höchst bescheidene Wohnstätten. Viele Aufnahmen in diesem Werk führen uns die Vergänglichkeit vor Augen. Wir staunen darüber, wie rasch letztlich auch jahrhundertealte Häuser dem Verfall preisgegeben sind, wenn man nicht zu ihnen schaut.

Und noch etwas fällt dem Auswärtigen beim Studieren von Fotos und Plänen auf: Selten sieht man von der Gasse aus, was sich hinter der Fassade verbirgt: Oftmals ein ausgreifender Gebäudekomplex mit Höfen, Neben- und Anbauten. Was für ein Kontrast für einen Lenzburger, wo sich die Altstadthäuser ganz gesittet in akkurat gestreckten Rechtecken zwischen eine Haupt- und eine Nebengasse einfügen.

Der Flecken lebte für und von der Messe und ist geprägt vom Auf und Ab der Wirtschaftsgeschichte und von vielfältigen – sagen wir ruhig: europäischen Einflüssen. Diese Einzigartigkeit in einem weiten Vergleich wird uns bei der Lektüre des Häuserbuchs schlagartig bewusst. 

Was mich im Gespräch mit Hans Rudolf Sennhauser und Fredi Hidber besonders faszinierte, war das Zusammentreffen von Theorie und Praxis, nicht je einzeln auf die Person bezogen, sondern sich gegenseitig durchdringend, vielleicht gelegentlich auch reibend. Mit Schalk in den Augen berichtet der Professor, wie er den damaligen Lehrbetrieb und die Vorschriften der Universität unterlief, indem er Arbeitswochen im Gelände, am Objekt einführte. «Geistige Arbeit beginnt mit den Händen», sagte er mir. Gab es eine bessere Berufsvorbereitung! Generationen von Studierenden danken es ihm. Aber nicht nur sie: Das Büro Sennhauser baute ein Weiterbildungsprogramm auf. Alle, die im Bereich Restaurierung tätig sind, konnten daran teilnehmen, Akademiker, wie Handwerker. Ein Gelehrter vom Kaliber Sennhauser denkt ganzheitlich, Zudem war er eben nicht nur Staatsangestellter, sondern auch Unternehmer eines KMU.   

Genau diesen praktischen Bezug finden wir auch im Häuserbuch. Und dieses profitierte von diesen Weiterbildungskursen, wenn Fredi Hidber Kleingruppen als Tutor anleitete und Bauuntersuchungen begleiteten liess. 

Die sehr sachliche Bezeichnung «Zurzacher Häuserbuch» dürfte den wenigsten von uns sofort den Reichtum offenbaren, der zwischen diesen Buchdeckeln steckt. Die umfassende Bestandesaufnahme der 70 repräsentativsten historischen Wohnbauten (von insgesamt 220 inventarisierten!) bietet Grundlagen für individuelle Bauvorhaben und Ahnenforschung, aber auch für die Bauverwaltung, die Ortsplanung, Regionen und Landesgrenzen übergreifend für Denkmalpflege, Archäologie und Raumplanung und ist für sie alle eine schier unerschöpfliche Quelle.

Die ergänzenden Kapitel zum Auftakt des Buches und im zweiten Band ordnen ein, spannen den Bogen übers Ganze und greifen aus. Ein kurzer Blick wird auf die Geschichte des Fleckens geworfen und auf das Messehaus als Bautypus, auf das Chorherrenstift, auf die Rheinübergänge beginnend bei den Brücken aus römischer Zeit. Es werden Zurzacher Besonderheiten thematisiert, Historische Ansichten vermittelt, Fotos und ein ganzer Plansatz hinzugefügt (auch buchbindetechnisch ein exklusives Werk!), der ländliche Siedlungsraum ist dargestellt, neue Erkenntnisse der Archäologie werden vermittelt und zu guter Letzt, was zur Gattung des Häuserbuchs zweifellos gehört, sind die Namen der Häuser thematisiert. Nebenbei bemerkt: Es gibt nicht nur bei Stifter, sondern auch in Zurzach ein Rosenhaus, das Haus zur Rose an der Nordseite der Schwertgasse.

Und schliesslich sind auch die Besitzerlisten aufgeführt. Man kann kaum erahnen, welchen Aufwand nur schon diese Zusammenstellung erforderte.

Diese Zusatzkapitel sind äusserst wertvoll, indem sie das Häuserbuch in ein grosses Ganzes einbetten. Zudem schlagen sie den Bogen zurück zur 2004 erschienenen Geschichte des Fleckens Zurzach und voraus zum zwölften und letzten Band der Aargauer GSK-Reihe «Die Kunstdenkmäler der Schweiz», der in Planung begriffene Band II des Bezirks Zurzach.

Die Gemeinde Zurzach hat an die Drucklegung des Häuserbuches einen namhaften Beitrag geleistet. Die Einwohnerinnen und Einwohner dürfen jetzt, davon bin ich vollständig überzeugt, auf diese Investition mit Genugtuung blicken, ja, sie dürfen sich gegenseitig und den Behörden dazu gratulieren. Das Werk beleuchtet die einzigartige Geschichte und Baugeschichte des Fleckens, hält so vieles fest, was ohne die Autoren unwiederbringlich verloren gegangen oder unsichtbar geblieben wäre. Darüber hinaus wird es für die hier lebenden Menschen auch identitätsstiftend wirken. An einem Ort mit 2000-jähriger Geschichte zu leben, über die man so viele Erkenntnisse gewonnen hat, geht nicht spurlos an einem vorbei. Und ganz praktisch: Das Häuserbuch bietet hervorragende Grundlagen für alles zukünftige Planen und Bauen im Flecken Zurzach.

Wir haben es, wie gesagt, mit einem gewichtigen Werk zu tun. Aber, es wäre nicht Hans-Rudolf Sennhauser, wenn ihm, dem Wissenschaftler, nicht das Ziel das wichtigste wäre. Stattdessen zählt der Weg. Und dieser endet nicht mit dem Abschluss dieses Langzeitprojekts. Dieser Abschluss könnte eher als ein Zwischenhalt verstanden werden. Doch auch Zwischenhalte kann man geniessen und feiern, an einer Pilgerstätte, einer Sust und natürlich insbesondere an einem Kurort. Ich reihe mich deshalb mit grossem Respekt und ganzer Herzlichkeit in die Reihe der Gratulanten ein.

«Ich rühm’ und preis’ es weit und breit!» Es gehört in jedes Zurzacher Büchergestell, schöne Dame, edler Herr! Und ist es Ihnen zu schwer zu tragen, dann liefern wir das Zurzacher Häuserbuch frei Haus!

Bern, Anfang Mai 2024

Buchvernissage in Bad Zurzach, Mai 2024 © Sennhauser