Flechtwerkskulptur

Der Reliefschmuck auf Schranken und auf liturgischem Mobiliar (Altäre, Stühle und Bänke, Sarkophage, Grabaufbauten etc.) in frühmittelalterlichen Kirchenräumen wird unter dem Begriff Flechtwerkskulptur zusammengefasst.

Mals (I), St. Benedikt, rekonstruierte Schranke vor der Ostwand der Kapelle

Forschungen zur Flechtwerkskulptur nehmen in der Stiftung FSMA einen wichtigen Platz ein, ausgehend von langjährigen Vorbereitungen ab 1970 für die Edition der Flechtwerkskulptur aus dem Kloster St. Johann in Müstair. Um 2004 wurde ein Gesamtprojekt für das churrätische Fundmaterial aufgestellt (Chur, Schänis, Mals, Einzelstücke im Vinschgau, St. Gallen). Bearbeitungen weiterer Schweizer Ensembles kamen hinzu. Ein Gesamtüberblick über die Funde aus Bayern wurde im Auftrag der Bayerischen Staatsbibliothek für das Historische Lexikon Bayerns erstellt.

Die Stiftung besitzt eine spezifische Fachbibliothek zum Thema und eine umfangreiche digitale Fotothek (Fotokampagnen ab 2004, Schwerpunkt Nord- und Mittelitalien); das Flechtwerk-Projekt ist international eng vernetzt.

Abgeschlossene Arbeiten zu einzelnen Skulpturenensembles

Flechtwerkskulptur Müstair

Die außerordentlich reichen Skulpturenfunde aus archäologischen Grabungen und Bauuntersuchungen im Kloster St. Johann in Müstair stammen von Teilen der liturgischen Ausstattung in Klosterkirche und Heiligkreuzkapelle, mit wenigen Ausnahmen der Frühzeit des Klosters zuzuordnen (Gründung um 775).

Die Edition erfolgte 2015 in einem Doppelband. Im Textteil werden die Werkstücke vorgestellt, Rekonstruktionsvorstellungen, Datierung sowie Stil diskutiert und der Motivschatz dargelegt. Die Zusammenfassung mit Übersetzung ins Italienische gibt einen Gesamtüberblick. Im Katalogband werden über 200 Werkstücke detailliert beschrieben und mit Fotos und Zeichnung dokumentiert.

Katrin Roth-Rubi, in Zusammenarbeit mit HR. Sennhauser, Die frühe Marmorskulptur aus dem Kloster St. Johann in Müstair. Band 5 der Reihe Müstair, Kloster St. Johann, Ostfildern 2015.

Flechtwerkskulptur Chur, Schänis und Vinschgau

Über 100 skulptierte Werkstücke karolingischer Zeit aus dem Bistum Chur werden in ihr kunstgeschichtliches Umfeld eingeordnet und in Katalogen mit Zeichnungen und Fotografien vorgelegt. Stücke aus der Kathedrale von Chur, dem Frauenkloster Schänis, der Benediktkapelle in Mals und Dorfkirchen im Vinschgau belegen den vielfältigen Gebrauch von Skulptur.
Eine Diskussion zur zeitlichen Einordnung führt bei Chur zu einer neuen Datierung in die Jahre nach 800. Stilistische Erwägungen machen es zudem wahrscheinlich, dass in der Kapelle von Schloss Tirol zwei reich dekorierte Fensterbögen und zwei Elemente mit Flechtwerk-Motiven im Portal als Spolien eingebaut wurden.

Katrin Roth-Rubi, Die frühe Marmorskulptur von Chur, Schänis und dem Vinschgau (Mals, Glurns, Kortsch, Göflan, Burgeis und Schloss Tirol). Unter Mitwirkung von Béatrice Keller (†), Ursula Morell, Hans Nothdurfter und Hans Rudolf Sennhauser.
Beiträge von Fabrizio Crivello, Manuel Janosa, Jens Lieven, Michael Unterwurzacher und Dietrich Willers, Ostfildern 2018.

Ascona

Aus dem Oratorio SS. Fabiano e Sebastiano in Ascona und aus seiner Umgebung sind 17 skulptierte Fragmente bekannt. Das stilistisch einheitliche Ensemble dürfte um die Mitte oder in der 2. Hälfte des 9. Jh. entstanden sein. Entgegen älterer Meinung gehörten die Werkstücke nicht zu einer Schranke innerhalb der Kapelle, vielmehr war die grosse Platte vermutlich Teil einer Sargkiste, die Säulchen und Kämpferkapitelle standen dagegen in den Fenstern der nachträglich angebauten Vorhalle. Der Dekor dieser Flechtwerkskulpturen weist auf Verbindungen zu Latium/Rom hin. 

Katrin Roth-Rubi, Frühmittelalterliche Skulptur aus dem Oratorium Santi Fabiano e Sebastiano in Ascona, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 68, 2011, S. 235–284

Como

Aus Sant‘Abbondio in Como ist ein grosser Bestand von Flechtwerkskulptur aus verschiedenen Phasen der liturgischen Ausstattung erhalten. Ein wesentlicher Teil ist dem reifen 9. Jh. zuzuordnen. Gewisse Schrankenelemente entsprechen stilistisch und motivisch jedoch dem Skulpturendekor, der sich am Bau von Sant‘Abbondio II aus dem späteren 11. Jh. findet; das liturgische Mobiliar dürfte mit der Kirche erneuert worden sein. Sie sind beredtes Zeugnis für Tradierung der Flechtwerkkunst in die romanische Zeit hinein.

Katrin Roth-Rubi, Appunti sulla continuità della scultura a intreccio nel primo romanico, in: Maria Letizia Casati, Scultura medievale per l’arredo liturgico a Como, Musei Civici, Como 2014 (erschienen 2015), S. 42–55.

 Windisch-Oberburg

Im Auftrag der Kantonsarchäologie Aargau wurden neun Fragmente aus dem Abbruch des Hauses Schatzmann in Windisch/Oberburg erneut untersucht. Mehrere Stücke dürften von einem Ziborium stammen; sie veranlassten Rudolf Moosbrugger 1959, in ihnen einen Zeugen für die Kathedrale eines nur durch den Namen bekannten Windischer Bischofs des späteren 6. Jh. zu sehen. Stiluntersuchungen legen jedoch eine Datierung in die 1. Hälfte des 8. Jh. nahe; eine Verbindung mit dem frühen Bischofssitz ist nicht möglich.

Katrin Roth-Rubi, Die frühmittelalterlichen skulpierten Architekturstücke aus Windisch-Oberburg (Komplex Schatzmann), mit Beiträgen von Philippe Rentzel und Marie Wörle, Jahresbericht 2015 der Gesellschaft Pro Vindonissa, Brugg 2016, S. 15–51

Amsoldingen

Bei Ausgrabung und Bauuntersuchung in der Stiftskirche von Amsoldingen in den Jahren 1978–1980 kamen im frühromanischen Mauerwerk ältere skulpierte Reste zum Vorschein, teils römisch, teils frühmittelalterlich.

Die ca. 20 frühmittelalterlichen Fragmente von 3 Kapitellen, 7 Kämpfern und 2 Säulchen sind zeitlich und stilistisch einheitlich und stammen von der Ausstattung eines Sakralbaus.

Die Bruchstücke des einen Kapitells erlauben, EDV unterstützt, eine virtuelle Rekonstruktion des ganzen Objekts. Seine Nähe zu Werken aus der Basilika von Saint-Denis/Paris, 775 geweiht, lenkte den Blick auf das Kunstschaffen im Westen des Karolinger Reiches. Mit der Verwandtschaft zu Saint-Denis ist auch der zeitliche Rahmen – die Jahrzehnte um die Mitte des 8. Jh. – für die Amsoldinger Hinterlassenschaft umrissen. Die Skulpturenreste zeugen von einer anspruchsvollen Architektur eines Vorgängers der romanischen Stiftskirche.

Herrenchiemsee

Aus Grabungen von Hermann Dannheimer und Altbeständen liegen ein Dutzend Fragmente der liturgischen Ausstattung der frühen Klosterkirche auf Herrenchiemsee (Bayern) vor. Stilistische Analysen machen es wahrscheinlich, dass das Ensemble aus der 1. Hälfte des 9. Jh. stammt, aus der Zeit nach dem Sturz von Tassilo, als das Kloster an das Bistum Metz, resp. an den Bischof Angilram übergegangen war.

Katrin Roth-Rubi, Die skulptierten Fragmente mit Flechtwerkdekor von Herrenchiemsee. Gegenüberstellung – Motive – Stil, in: Hermann Dannheimer et al., Kloster und Stift Herrenchiemsee: Archäologie und Geschichte (um 620 -1803), (erscheint Ende 2024)

In Druckvorbereitung

St. Gallen

Die Skulpturenfunde aus den Grabungen von 1963–1967 in der Kathedrale von St. Gallen sind mengenmässig beschränkt, verglichen etwa mit denjenigen aus dem Kloster St. Johann in Müstair. Dank günstiger Konstellation bietet sich jedoch die Möglichkeit für eine Stilanalyse, in der weitgehend gesichert datierte Objekte aus der 2. Hälfte des 8. Jh. und ebensolche aus dem 2. Viertel des 9. Jh. mit identischer Herkunft und mit ähnlichen Motiven einander gegenübergestellt werden können. Derartige Fälle sind selten. Das Resultat, plakativ vereinfacht, dürfte über St. Gallen hinaus gültig sein: das scharf geschnittene, in die Tiefe greifende Relief des reifen 8. Jh. setzt sich vom applikenhaft wirkenden Dekor der 30er Jahre des 9. Jh. deutlich ab.

Sechs Kapitelle und zwölf Kämpfer stammen aus den Fundamenten, die beim Bau des gotischen Chores angelegt wurden; sie sind Teil des von Abt Gozbert erbauten dreischiffigen Chores aus den Jahren um 830.

Die Kapitelle lassen sich je zu zweit drei Typen zuordnen, von den Kämpfern sind ein Paar, ein Einzelstück und sechs typologisch gleiche Werksteine (sog. Schilfblatttyp) vorhanden. Nach Fundlage handelt es sich um zwei Ensembles, die je einer Seite der Chorarkaden zuzuordnen sind. Die Kapitelle standen auf den Säulen, die Kämpfer einerseits auf Pfeilern am Anfang und am Ende der Arkaden, anderseits – die Schilfblattkämpfer – auf den Kapitellen. Die Bauskulptur überrascht vorerst durch ihre fremdartige Gestaltungsweise. Aus der Analyse geht aber hervor, dass ihre typologischen und motivischen Wurzeln in der Spätantike und im frühen Mittelalter gründen; vergleichbare Vorlagen sind im Süden, Osten und Westen der antiken Welt ausfindig zu machen.

Die Verbindung überkommenen Formengutes zu einem Ganzen mit eigenem Charakter dürfte das Anliegen der Abtei gewesen sein, das in dieser Art andernorts kaum zu beobachten ist.

Mit ähnlichem Anspruch ist jedoch der Liber Amicorum gestaltet, das illuminierte Gedenkbuch aus den Jahren kurz nach 810, ohne Zweifel ein Repräsentationswerk des St. Galler Skriptoriums, ebenfalls mit motivisch ausgeprägter Heterogenität. Demzufolge: zwei herausragende Werke gleichen Tenors in unterschiedlichen Gattungen, beide in der Abtei St. Gallen im früheren 9. Jh. hergestellt – das Ergebnis ist in Zukunft zu verfestigen und weiter zu verfolgen.

Publikationen

Katrin Roth-Rubi
  • Kat. Nr. 65, in: Georg Eggenstein et al., Eine Welt in Bewegung, Unterwegs zu Zentren des frühen Mittelalters, München / Berlin 2008, S. 228–231.
  • Scultura a intreccio della Raetia Prima, in: I Magistri Commacini, Mito e realtà del medioevo lombardo, Atti del 19° congresso internazionale di studio sull?alto medioevo (Varese / Como, 23–25 ottobre 2008), Spoleto 2009, S. 675–690.
  • Die Flechtwerkskulptur Churrätiens – Müstair, Chur, Schänis, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 67, 2010, S. 9–28.
  • Die “äbtische Cathedra“ (E.A. Stückelberg) aus heutiger Sicht – Zu einem altbekannten Fragment aus dem Kloster St. Johann in Müstair (Graubünden), in: Bayrische Vorgeschichtsblätter 75, 2010, S. 227–236.
  • Das Antependium in der Klosterkirche St. Johann von Müstair, in: Vom Steinbeil bis zur Flinten­kugel, Festschrift zur Pensionierung von Jürg Rageth, Chur 2011, S. 67–77.
  • Frühmittelalterliche Skulptur aus dem Oratorium Santi Fabiano e Sebastiano in Ascona, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 68, 2011, S. 235–284.
  • Zum Motivschatz der churrätischen Marmorskulptur im Frühmittelalter, in: Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Grossen, Acta Müstair, Kloster St. Johann, Band 3, Zürich 2013, S. 403–425.
  • Ungleiche Zwillinge: Zwei skulpierte Marmorbalken aus Frauenwörth auf Frauenchiemsee und aus Müstair (letztes Viertel des 8. Jhs.), in: Ein kräftiges Halali aus der Römerzeit! Norbert Heger zum 75. Geburtstag, ArcheoPlus, Schriften zu Archäologie und Archäometrie der Paris Lodron-Universität Salzburg, 2014, S. 239–249.
  • Marmorbalken aus Frauenwörth und Müstair – Vergleich und Herkunft des Werkstoffs (mit Michael Unterwurzacher), in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 79, 2014, S. 241–247.
  • Der Greif – ein Wächter im Kloster St. Johann, Flechtwerkkunst des frühen Mittelalters und die Greifenplatte aus der Klosterkirche Müstair, in: Neue Zürcher Zeitung, Literatur und Kunst, 27. 12. 2014, S. 55.
  • Appunti sulla continuità della scultura a intreccio nel primo romanico, in: Maria Letizia Casati, Scultura medievale per l’arredo liturgico a Como, Musei Civici, Como 2014 (erschienen 2015), S. 42–55.
  • Die frühe Marmorskulptur aus dem Kloster St. Johann in Müstair (in Zusammenarbeit mit HR. Sennhauser), Text- und Katalogband, Reihe Müstair, Kloster St. Johann, Band 5, Ostfildern 2015.
  • Neu und doch nicht fremd: Zum Motiv eines unlängst in Mals entdeckten Pfostens mit Flechtwerkdekor und zur Schranke in St. Benedikt, in: Antiquitates Tyrolenses, Festschrift für Hans Nothdurfter zum 75. Geburtstag, herausgegeben von Paul Gleirscher und Leo Andergassen, Veröffentlichungen des Südtiroler Landesmuseums Schloss Tirol, Band 1, Innsbruck 2015, S. 95–108.
  • Die frühmittelalterlichen skulpierten Architekturstücke aus Windisch-Oberburg (Komplex Schatzmann), mit Beiträgen von Philippe Rentzel und Marie Wörle, Jahresbericht 2015 der Gesellschaft Pro Vindonissa, Brugg 2016, S. 15–51.
  • Fragment eines grossformatigen Architekturteils mit Flechtwerkdekor aus Brugg-Altenburg, Jahresbericht 2016 der Gesellschaft Pro Vindonissa, Brugg 2017, S. 25-31.
  • Die frühe Marmorskulptur von Chur, Schänis und dem Vinschgau (Mals, Glurns, Kortsch, Göflan, Burgeis und Schloss Tirol), unter Mitwirkung von Béatrice Keller, Ursula Morell, Hans Nothdurfter und Hans Rudolf Sennhauser, Ostfildern 2018.
  • Frühmittelalterliche Skulptur in Rätien und den Chiemsee-Klöstern: Bemerkungen zu historischen Aspekten, in: Egon Wamers (Hrsg.), Der Tassilo-Liutpirc-Kelch im Stift Kremsmünster, Geschichte – Archäologie – Kunst, Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt 32, Regensburg 2019, S. 297–315. 
  • Flechtwerkskulptur, publiziert am 05.03.2021; in: Historisches Lexikon Bayerns.